Konflikt auf dem Bahnsteig
Gaby

Gaby

26.05.2020

Konflikt auf dem Bahnsteig

Wenn es eng wird auf den Bahnhöfen, sind klare Ansagen gefragt. Auch unbequeme. Oder ist das ein Bedürfnis einer lärmempfindlichen «Alten»?

Gaby: Die Bahnhöfe platzen aus allen Nähten – erst recht an Tagen mit vielen Schulreisen. Dies habe ich kürzlich erfahren.


Mit zwei vollen Taschen beladen steige ich aus dem Zug und bewege mich vom Perron Richtung Treppenabgang. Bereits von weitem höre ich lautes, fröhliches Geschrei aus der Bahnhofsunterführung. Dessen Quelle lässt sich nach ein paar Sekunden als Schulklasse identifizieren, die sich – völlig aus dem Häuschen und übermütig – den Treppenaufgang zum Perron in voller Breite erobert.

Weder SchülerInnen noch Lehrerin scheinen zu bemerken, dass sie sich so unpassend platziert haben, dass niemand mehr die Treppe benutzen kann. Der Weg ist versperrt. Also mache ich mich bemerkbar: «Könnte ich bitte die Treppe runter?» Meine höfliche Bitte findet bei den Kindern kein Gehör. Also hebe ich meine Stimme an und rufe lauter: «Hallo, ich möchte da durch – macht bitte Platz, ihr versperrt die Treppe!» Ein paar Kinder staunen mich an, rücken nach einer längeren Weile schliesslich doch ein paar Zentimeter zur Seite, so dass ich mich die Treppe runter schlängeln kann. Dabei höre ich noch, wie die Lehrerin mir etwas nachruft, das sich anhört wie «Die Kinder sind aufgeregt» und irgendetwas von «Schulreise…».


Mir gehört die Welt

Dieses Ereignis beschäftigt mich länger als erwartet. Die Frage, die sich mir aufdrängt: Wann ist der Zeitpunkt da, zu dem Kinder dazu angeleitet werden sollen, dass sich die Welt nicht um sie alleine dreht? Im oben beschriebenen Moment war nun ich jene Person, quasi der Störfaktor, die sich ihren Platz einfordern musste. Was ich in dieser Situation vermisst habe: Ein souveränes «Bitte gebt die Treppe frei» von Seiten der Aufsichtsperson. Nicht mehr und nicht weniger.




Ein Generationenkonflikt?

Der Text von Gaby Jordi bewog ihre junge Kollegin Annina Reusser (21) aus der «und»-Redaktion, darauf zu reagieren. So entstand redaktionsintern ein kontroverser Dialog über diese Situation.

Annina Reusser: Entschuldige, aber du hörst dich ja an wie eine verbitterte, lärmempfindliche Alte ohne Verständnis für Kinder und deren Verhalten.

Gaby Jordi: Es war nicht der Lärm, der meine Toleranz strapazierte. Meine Absicht und die Bitte, die Treppe zu betreten, wurde von den SchülerInnen gar nicht wahrgenommen. Deshalb habe ich mich lautstark bemerkbar gemacht.

Annina Reusser: Klar hatte die Lehrerin offenbar keine Kontrolle und ihr Kommentar ist fragwürdig, andererseits ist eine Schulklasse, die die ganze Treppenbreite in Beschlag nehmend auf den Perron steigt, ziemlich schnell an einem vorbei. Eine, zwei, drei, vier Sekunden warten, schon sind die paar Treppenstufen wieder frei. Meiner Meinung nach darf man da auch mal ausatmen und den Sturm vorbeiziehen lassen – er betrifft einen ja dann nicht mehr.

Gaby Jordi: Du hast recht, Annina: Ich hätte drei Mal durchatmen und die Schülergruppe an mir vorbeiziehen lassen können. Das passte in jener Situation nicht zu meinem Verhalten. Mein Bauch gab mir zu verstehen: «Mach dich bemerkbar». Indem ich mir Gehör verschafft habe, gab ich ihnen zu verstehen, dass ihr Übermut der eine und meine Wenigkeit der andere Teil ihres Schulreise-Erlebens sind.

Annina Reusser: Eine ausgelassene Schulklasse fällt natürlich auf. Im Rahmen der Pfadi war ich schon oft mit einer Gruppe Kinder unterwegs. Ich verstehe, wenn dies stört. Aber genauso störend sind auch Festival-Gänger, indische Touristenfamilien mit Schränken als Koffer und Seniorenreisegruppen. Ich habe schon SeniorInnen erlebt, die im Schneckentempo die Treppe hochsteigen und den Eingang in den Zug versperren, oder schon fünf Minuten vor Ankunft aufstehen, ihre Jacken, Wanderstöcke und Rucksäcke zusammensuchen, und beim abrupten Bremsen des Zuges fast das Gleichgewicht verlieren. Ich plädiere hier dafür, Toleranz zu üben.

Gaby Jordi: Bei der Toleranz stimme ich dir zu. Allerdings hat diese ihre Grenzen. Als ehemalige, jahrelange Berufspendlerin konnte ich mir eine dicke «Toleranz-Haut» zulegen. Die wird ab und zu überstrapaziert. Dann reagiere ich. Wäre dem nicht so, wäre ich gleichgültig gegenüber mir selbst.

dieser Blogbeitrag dürfen wir dank der Zusammenarbeit mit «und» - das Generationentandem veröffentlichen und erschien am 4. Februar 2016.

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